Sahra Wagenknecht zufolge habe sich die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte seit der Wiedervereinigung teilweise verdoppelt. Das stimmt eher nicht und ist vereinfachend. Die Personalbelastung ist gestiegen, aber in geringerem Ausmaß als von Wagenknecht behauptet. Zudem beruft sie sich auf Zahlen der Deutschen Stiftung Patientenschutz, die sich nur auf die Arbeitsbelastung der Pflegenden in Krankenhäusern stützt und nicht auf die Belastung der Pflegekräfte außerhalb der Krankenhäuser.
Am 5. Oktober kritisierte Sahra Wagenknecht, die Fraktionsvorsitzende der Linken, die Pflegesituation in Deutschland. Ihre These: Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Pflege belegen die Verdopplung der Arbeitsbelastung von Pflegekräften.
Neue Zahlen des Statist. Bundesamtes zur #Pflege zeigen Ausmaß der Verantwortungslosigkeit der letzten Regierungen https://t.co/oNpWFtmD1y pic.twitter.com/vDXM5QV3cO
— Sahra Wagenknecht (@SWagenknecht) 5. Oktober 2017
Die Pflegestaitstik 2015 zeigt, dass sich 355 600 Pflegekräfte in ambulanten Diensten und 730 000 Pfleger in Pflegeheimen, zusammengerechnet also circa 1,09 Millionen Pflegekräfte um 1,5 Millionen Pflegebedürftige kümmern (Pflege-Statistik 2015, Seite 5). Bei der Betrachtung der Arbeitsbelastung von Pflegekräften müssen wir also beachten, dass viele Pflegekräfte im Bereich der ambulanten Pflege nur in Teilzeit oder in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten (Pflege-Statistik 2015, Seite 14).
Hat die Arbeitsbelastung von Pflegekräften zugenommen?
Im direkten Vergleich mit der letzten Statistik von 2013 stieg die Zahl der Pflegebedürftigen, die durch einen ambulanten Dienst versorgt wurden, um 76.000 Personen (Pflege-Statistik 2015, Seite 7), die Zahl der Pflegekräfte in den ambulanten Diensten stieg dagegen lediglich um 35.600 Personen (Pflege-Statistik 2015, Seite 10). Wagenknecht bezieht sich in ihrer Aussage auf eine teilweise Verdoppelung seit 1991 — und hier liegt das Problem in ihrer Aussage. Daten zur allgemeinen Pflegesituation erfasst das Statistische Bundesamt erst seit 1999. Für den Zeitraum zwischen 1991 und 1999 liegen weder dem Statistischen Bundesamt, noch dem Bundesministerium für Gesundheit entsprechende Zahlen vor. Zwar lässt sich im Vergleich mit der ersten Statistik zur Pflege von 1999 sagen, dass die Zahl der Patienten pro Pflegekraft statistisch gesehen leicht gesunken ist — für den Zeitraum von 1991 bis 2015 lässt sich jedoch keine Aussage treffen.
Wie uns eine wissenschaftliche Mitarbeiterin Wagenknechts auf Anfrage mitteilt, bezieht sich die Aussage im Tweet der Linken-Politikerin auf Zahlen der Deutsche Stiftung Patientenschutz und einen entsprechenden Artikel bei Focus Online. Die Daten der Stiftung Patientenschutz stützen sich auf die Krankenhausstatistik von 2012 sowie die Grunddaten der Krankenhäuser von 2016 und zeigen die Entwicklung der Pflegekräfte und Fallzahlen in Krankenhäusern, nicht die allgemeine Situation.
Laut den Daten der Deutschen Stiftung Patientenschutz stiegen die Fallzahlen pro Pflegekraft im Zeitraum von 1991 bis 2016 um 34 Prozent in ganz Deutschland. Das würde bedeuten, dass die Arbeitsbelastung nur um etwas mehr als ein Drittel gestiegen wäre. Wagenknecht spricht von einer Verdoppelung der Arbeitsbelastung. In Bezug auf den Pflegeschlüssel in Berlin trifft das zu: Dort hatte eine Pflegekraft 1991 noch knapp 32 Patienten zu betreuen, 2016 waren es knapp 63 — die Arbeitsbelastung hat sich seitdem also verdoppelt. Berlin ist aber das einzige Bundesland, in dem die Fallzahlen pro Pflegekraft in den Krankenhäusern so stark gestiegen sind.
Fazit: Sahra Wagenknecht spricht ein zentrales Problem in der Pflege an: Deutlich mehr Pflegebedürftige fallen auf immer weniger Pflegekräfte, auch in den Krankenhäusern kämpft man mit Pflegekräftemangel. Das ergibt sich aus den Zahlen der Pflegestatistik und der Studie der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Ob sich die Arbeitsbelastung seit 1991 jedoch in allen Bereichen der Pflege verdoppelt hat, lässt sich nicht sagen, weil die Datengrundlage fehlt. Wagenknecht behauptet jedoch, dass sich die Arbeitsbelastung „teilweise seit 1991 verdoppelt” hat. In Bezug auf Berlin stimmt das, für den Rest Deutschlands jedoch nicht. Wagenknechts Aussage stimmt daher überwiegend, ist aber vereinfachend.
Ergänzung 06. 11.2017
Ursprünglich hatten wir die Aussagen als “stimmt eher nicht” eingestuft. Mehrere Leser sowie die Partei die Linke haben jedoch noch einmal auf die Einschränkungen in Wagenknechts Satz hingewiesen, dass sich die Arbeitsbelastung “teilweise” verdoppelt habe. Daher haben wir die Einstufung geändert.
Pflege in Deutschland:
Das Statistische Bundesamt gibt alle zwei Jahre eine Statistik zur Pflege heraus. Die aktuellste Studie erschien im Januar 2017 und bezieht sich auf das Jahr 2015. Sie enthält Daten über die Pflegebedürftigen sowie über ambulante Dienste, Pflegeheime und deren Personal und zeigt: Es gibt insgesamt 2,9 Millionen Pflegebedürftige in Deutschland. Von Ihnen wird nur etwas mehr als ein Viertel in Pflegeheimen versorgt, mehr als 70 Prozent hingegen zuhause. Dort übernehmen die Angehörigen in 1,38 Millionen Fällen die Pflege, bei 692.000 Pflegebedürftigen kümmern sich ambulante Dienste um die Pflege.
2 Gedanken zu „Pflegekräfte als moderner Sisyphos? Hat sich ihre Arbeitsbelastung verdoppelt?“
Kommentare sind geschlossen.
Hallo Zusammen,
ich fand die Bewertung vorher schon fast Perfekt. In so einer Aussage „teilweise“ statt „(z.B.) in Berlin“ zu schreiben ist kalkulierte Ungeauigkeit und sicher kein Fauxpas der sonst so gebildeten Dame und ihres Teams. Die Datengrundlagen liegt klar in Berlin. Und eine Rechnung wie Deutschland geteilt durch X gleich Berlin passt auch nicht. Warum wohl wider besseres Wissen verallgemeinert wird?
Ich sehe es also andersrum, statt „Aussage stimmt daher überwiegend“ (der Faktencheck stimmt ja nur für Berlin) also „Aussage stimmt daher TEILWEISE“ 😉
BTW: Danke für ihre Arbeit, Frau Heigl
Grüße Dennis H.
… ich bin in dem Punkt übrigens ÜBERWIEGEND der Meinung von Frau Wagenknecht
Genau genommen stimmt es ja schon, wenn es in Berlin so ist. Teilweise heißt ja erstmal nur irgendein Teil und sagt nichts über die Größe des Teils aus. Daher finde ich die Bewertung hier etwas zu simpel. Dennoch danke für die interessante Aufschlüsselung 🙂