Es gibt wenige Debatten in Deutschland, die in der Öffentlichkeit so heftig geführt werden wie die um das Kopftuch. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ist der Meinung, es sei für die Mehrzahl der muslimischen Frauen in Deutschland ein Symbol der Nicht-Gleichberechtigung der Frau. Wir haben Esra Ayari, leitende Redakteurin des Fachmagazins IslamiQ, nach ihrer Meinung gefragt. Sie ist deutsche Muslimin und trägt kein Kopftuch.
stimmtdas.org: Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat behauptet, dass die Mehrzahl der muslimischen Frauen in Deutschland im Kopftuch ein Symbol der Nicht-Gleichberechtigung der Frauen sieht. Entspricht das Ihrer Wahrnehmung?
Esra Ayari: Nein, tut sie nicht. Denn hier geht es nicht nur um das Kopftuch, sondern um die Selbstbestimmung der muslimischen Frau, die ihr immer wieder abgesprochen wird. Politiker wie Herrmann bestimmen eben jene Frauen mit solchen Aussagen fremd. In diesem Fall die nicht-kopftuchtragenden muslimischen Frauen. Wie kann ein weißer Mann in solch einer privilegierten Situation überhaupt denken zu wissen, wie muslimische Frauen über das Kopftuch denken? Ich hingegen bin Muslimin, trage kein Kopftuch und mache mich – schon aus feministischer Überzeugung – jederzeit für das selbstbestimmte Tragen des Kopftuchs stark und zelebriere ihren Mut.
stimmtdas.org: Warum tragen einige muslimische Frauen in Deutschland das Kopftuch? Und warum tragen es einige nicht?
Es ist Konsens unter Muslimen, dass das Tragen des Kopftuchs ein Gebot des Islams ist, es gibt aber auch andere Meinungen, die in der Minderheit sind. Gläubige Musliminnen drücken also so ihre Verbundenheit aus und es ist ein Akt des Gottesdienstes. Dennoch, wenn sie zehn Kopftuchträgerinnen fragen, werden sie zehn verschiedene Gründe hören. Genauso ist es mit muslimischen Frauen, die es nicht tragen. Es gibt viele Gründe, die dazu führen, dass man sich dagegen entscheidet. Die Angst vor gewalttätigen Übergriffen und die Ungleichbehandlung am Arbeitsmarkt könnten beispielsweise Gründe dafür sein.
stimmtdas.org: Laut einigen Umfragen ist ein Großteil der Bevölkerung der Ansicht, dass die Entscheidung über das Tragen eines Kopftuchs nicht von der muslimischen Frau alleine, sondern von der Familie und ihrer Umgebung getroffen wird. Stimmt das? Und warum denken die Deutschen so?
Es ist ein Erbe der Kolonialzeit, dass man die muslimische Frau zum Opfer stilisiert und ihr die Selbstbestimmung abspricht. Muslimische Frauen müssen aber nicht gerettet werden. Weder sind alle Musliminnen bemitleidenswerte Frauen, die zum Tragen des Tuches gezwungen werden, noch sind alle muslimischen Männer gewalttätige Patriarchen. Warum denken wir so? Weil die genannten Stereotypen sich immer wieder medialer Aufmerksamkeit erfreuen und gegenteilige, realistische Bilder zu selten produziert und gesehen werden.
stimmtdas.org: Viele Umfragen und Studien beschäftigen sich mit der Frage, was Deutsche über das Kopftuch denken. Nur wenige davon berücksichtigen auch die andere Perspektive, nämlich die der Kopftuchträgerinnen. Ist die Stimme der Muslime, insbesondere der muslimischen Frauen, in der Kopftuchdebatte genügend vertreten?
Nicht genügend, nein. Zwar gibt es vereinzelt Aktivistinnen und mutige Frauen, die sich in die Öffentlichkeit stellen, doch meistens sind sie alleine und teilweise viel Hass und Hetze ausgesetzt. Generell sind Muslime und ihre Stimmen nicht ausreichend vertreten: Nicht in der Politik, nicht in den Medien.
stimmtdas.org: Religionsspezifische Kleidung von Männern, wie zum Beispiel Käppchen und Bärte, war, anders als die von Frauen, bislang fast nie im Zentrum der öffentlichen Debatte. Zufall oder Absicht?
Ich würde eher von einer Systematik sprechen, wie beispielsweise in der Debatte nach der Kölner Silvesternacht erkennbar. Plötzlich wurden Politiker zu Frauenrechtlern und instrumentalisierten die Frau, um das eigene politische Begehren voranzutreiben. Diese Systematik betrifft also nicht nur die muslimische Frau, sondern die Frau im Allgemeinen. An Frauenkörpern leben und sterben viele Debatten.
Es gibt jedoch wenige Debatten in Deutschland, die den Leuten so am Herzen liegen, wie die um das Kopftuch. Wie lässt sich das erklären?
Das Tuch wird als Projektionsfläche für viele Ängste und Konflikte gesehen. Nach dem Konstruktionsprinzip wird das Tuch als Symbol des Islams zum Feindbild konstruiert. Gleichzeitig bietet sie Angriffsfläche für vermeintliche FrauenrechtlerInnen. Das Kopftuch ist so oft Gegenstand von Debatten, weil es zu einem konstruierten Symbol von negativen Zuschreibungen gemacht wurde.
Gerade wird über das Kopftuchtragen im öffentlichen Dienst diskutiert. Was denken Sie über das Berliner Urteil?
Leider wurde eine kopftuchtragende Lehrerin daran gehindert, ihren Beruf auszuüben. Das Neutralitätsgesetz in Berlin verbietet es ihr, an einem Gymnasium zu unterrichten. Das ist zum einen diskriminierend und zum anderen verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat es 2015 so entschieden. Deutschland ist kein laizistischer Staat. Religion ist im öffentlichen Raum gestattet, jedoch geregelt von der religiös-weltanschaulichen Neutralität. Zwar ist diese umstritten, doch einigermaßen gesichert ist, dass der Staat sich nicht mit einer bestimmten Religion identifizieren darf, keine bevorzugt oder vernachlässigt. Dies geschieht jedoch in Berlin. Die dortige Gesetzgebung wird der Pluralität der Stadt keineswegs gerecht.
Das Interview führte Francesca Polistina.